Aequitas' Diarum: 13. Ingerimm 1010 BF

Aus Die Sieben Gezeichneten
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Ein neuer Tag, ein neues Glück. Tatsächlich ist der letzte Eintrag zwar erst von Gestern, aber ich gestehe durchaus ein, dass unser Gastgeber sich vortrefflich um uns sorgt und es mir somit nicht an Zeit mangelt, langsam mit der Gegenwart Schritt halten zu können. Fast schon bewundernswert, diese Fürsorge, wenn man bedenkt, was gewisse Subjekte innerhalb unserer kleinen Zweckgemeinschaft in den letzten Tagen für Unheil anrichteten und Tarlisin dadurch das zweifelhafte Vergnügen bescherten uns noch länger hier zu beherbergen. Aber sei es drum, letztlich wird er ja in monetärer Hinsicht durchaus kein Verlustgeschäft machen, wenn unser Plan funktioniert. Aber das werde ich dann wohl erst im... nächsten? Übernächsten? Eintrag anreißen.

Die Anspannung der vergangenen Stunden war mit einem Schlag von uns gewichen. Wir alle mochten zwar mental sowie physisch angeschlagen sein, doch genossen wir die Ruhe und den Frieden dieser Nacht am See: Ich vernahm nicht den leisen Luftzug eines herannahenden Besens, kein Rascheln im Geäst, kein Krabbeln auf meiner Haut. Es war eine gute Nacht.
Ich freute mich, dass unser kurzes Intermezzo mit dieser götterverfluchten Hexe nun endlich ad Acta gelegt werden konnte und der Weiterreise nach Fasar nichts mehr im Weg stand. So lange fernab der Zivilisation... ich konnte es kaum erwarten wieder in die „Mutter aller Städte“, in meine Akademie, in meine Privatgemächer zu kommen. Erlesene Speisen, gebildete Collegae, in jeder Hinsicht fähige Sklaven (ein Sieg der hedonistischen Praxis über etwaig keimende, theoretisch fundierte Kritik), was wollte ich denn mehr? So dachte ich zumindest, doch beim Frühstück sollte mir die elende Hexe einen Strich durch die Rechnung machen.
Denn Luzelin, die ursprünglich eher aus jenen Gefilden stammte, in welchen Leomar sich heimisch nennen würde, war nicht ohne Grund hier in Aranien. Sie, im Übrigen ebenso wie Achaz, befand sich auf der Suche nach einem Schwarzen Alicorn. Ich verschluckte mich an einem widerlichen Bissen Brot, welcher sich seit nunmehr einer Minute im dialektischen Widerspruch zu meiner These des Zerkauens befand. Gerade in Moment der heraufdämmernden Synthese musste die Satuariadienerin nun mit dieser Neuigkeit herausrücken.
Gewiss, sie ließ es beiläufig fallen, erwähnte es nur am Rande, doch bereits durch diese verräterische Regung meines Körpers war uns beiden klar, dass sie bereits gewonnen, bevor das Spiel überhaupt richtig begonnen hatte.
Dass wir sie in ihrer Suche unterstützen wollten, empfände sie als „wahre Geste der Hilfsbereitschaft“ und wenn wir etwas fänden, könnten wir sie durch ein Holzamulett mit Katzenschnitzereien erreichen, wir müssten es einfach nur einem der entsprechenden Tiere umhängen und die Botschaft auf beliebige Weise an jenem applizieren. Hervorragend. Ich nahm mir fest vor, das Ding bei der erstbesten Gelegenheit ins Unterholz zu werfen, aber leider reichte sie Yerodin und nicht mir den Anhänger.
Die anderen schienen dieser neuerlichen Aufgabe (galt es nicht ursprünglich einmal irgendeinen Wald, in welchem sich zufällig einige kulturell degenerierte Menschen angesiedelt hatten, vor Orks zu beschützen?) gegenüber, wohlmöglich aus Dankbarkeit, nicht abgeneigt, aber zumindest mein Argument, dass die Zeit doch dränge (wenn schon irgendwo einen Zwischenstopp einlegen, dann doch wohl in Fasar und nicht in irgendeiner verlassenen Einöde) schien überzeugend. Man einigte sich im Folgenden, dass man aber nichts desto Trotz auf dem Weg gen Fasar Ausschau halten wolle. Ein Kompromiss, mit dem ich leben konnte, ich ging nicht davon aus, dass dieses Horn irgendwo am Wegesrand zu finden sein würde.
Gewiss, es reizte mich durchaus, dieses Artefakt zu finden, aber ich hatte besseres mit meiner Zeit vor und mit etwas Glück würde mich alleine mein frisch erworbenes Szepter über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte beschäftigen. Die Gerüchte, dass die Akademie in ihren unergründlichen Kellern immer noch eine ganze Sammlung dieser Schätze hüten würde, hatte ich bereits vor längerer Zeit als Mummenschanz abgetan, was war da also ein Alicorn im Vergleich zu einem derart einzigartigen Zufallsfund?
Wir verabschiedeten uns von Luzelin sowie ihrem Vertrauten, dem Kater, welcher in seinen Blicken eine selbst für Katzen derart bemerkenswerte Intelligenz verriet, dass ich ihn am liebsten an Ort und Stelle mitgenommen hätte, und machten uns nach dem viel zu kargen Mahl, der grundlegenden Wiederauffrischung meiner Hygiene und einer Rasur am See auf den Weg Richtung Fasar.
Auf dem Weg zu unserer nächsten menschlich dominierten Rast ereignete sich zweierlei: Die zum Glück nur kurze Begegnung mit den Harpyien, welche Yerodin fast das Leben gekostet hatten außen vor gelassen, bemerkten wir einerseits, dass wir verfolgt wurden und gewannen andererseits eine wenig erfreuliche Begleitung hinzu.
Luzelin erwähnte am Rande, dass es möglich sei, dass Achaz über Handlanger verfügte, die sie uns auf den Hals hetzen würde, um unser Handeln auf Schritt und Tritt zu beobachten. Ich tat dies schnell als lächerlich ab, derartige Kooperationen von Hexen mit nichtmagischen Menschen erschienen mir in dem Bild, welches ich von den Satuariatöchtern hatte, als höchst unwahrscheinlich und hatten wir denn zudem nicht unter Beweis gestellt, dass sie es nicht mit uns aufnehmen konnte?
Meine diesbezüglichen Hypothesen waren anhand dessen, was Yerodin und seiner Wahrnehmung nicht entging wiederlegt. Genaueres als das wir Verfolger im Nacken hatten, konnte er zwar nicht offerieren, aber inzwischen hatte ich seiner diesbezüglichen Intuition gegenüber doch einen gewissen Respekt, der durch meinen Verdacht, dass es sich bei ihm um einen Geweihten des Phex (der ja innerhalb dieses willkürlich zusammengestückelten Pantheons noch zu den angenehmeren Erscheinungen zählte, mit denen ich mich noch eher anfreunden konnte als mit... einem Bannstrahler) handelte, noch verstärkt wurde.
Die bereits genannte Begleiterin, deren zweifelhafte Bekanntschaft wir auf diesem Wege machten, trug den Namen Thornia von Löwenstein und es ließ sich nicht verleugnen, dass, wenn ich geglaubt hätte, dass die Mächte sich in mein freigeistiges Leben einmischten, ich nun wohl davon ausgegangen wäre, dass sie sich einen durchtriebenen Scherz mit mir erlaubten, als Rache dafür, dass ich zum größeren Wohle von Streitzig den Zollbehörden überstellt hatte. Denn Thornia von Löwenstein war eine Rondra in Nibelungentreue ergebene Amazone, gerade unterwegs zu einer neugegründeten Burg ihres Völkchens, um der dortigen Königin diplomatische Grüße auszurichten. Mein kurzer Vergleich zwischen dem, was in der tulamidischen Politik den Rang eines Diplomaten bekleiden durfte und wie sich dieses in Relation zu den Ansprüchen der Amazonen einordnen ließ, scheiterte schnell an meinen fehlenden Kenntnissen der hochspannend anmutenden Infinitessimalrechnung, doch als sie dann noch hinzufügte, dass die Feste bereits seit mehreren Jahrzehnten an Ort und Stelle bezogen ward, überwog meine Skepsis gegenüber dem Verhältnis von Rondragetreuen und politisch-diplomatischen Strukturen vollends. Erst dachte ich, sie wolle mich narren, doch schnell ergab sich, dass dies ihr voller Ernst war. Befremdlich, wahrlich befremdlich.
Nach zwei Tagesreisen (ich hatte aus der Zeit mit von Stretzig gelernt und hielt mich höflich schweigend in meinen Gedanken zurückgezogen mit epistomologischen Grundfragen beschäftigt am Rande der Gruppe) erreichten wir schließlich die kleine 300-Seelen-Ortschaft Rash Lamashtu. Hierbei handelte es sich definitiv um einen meilenweiten Fortschritt gegenüber dem namenlosen Kaff, in welchem sich Sharim auf seine fatale Liebschaft einließ, alleine schon auf Grund der Tatsache, dass dieses Dorf dem Reisenden einige echte Sehenswürdigkeiten bot: Zur Gänze in den Ruinen einer längst untergegangenen echsischen Hochkultur (mögen Götter und Dämonen sie verfluchen) errichtet, war Rash Lamashtu von einer eigenartigen Schönheit erfüllt, der auch die unglaubliche Menge streunender Katzen, welche uns auch immer wieder folgten und herzerweichend anmaunzten keinen Abbruch tat, ganz im Gegenteil. Um ehrlich zu sein bin ich mir ob der Datierung garnicht sicher, theoretisch wäre auch ein Zusammenhang zu der Zivilisation der Gryphonen im 6. Zeitalter denkbar, aber das erscheint doch relativ weit hergeholt.
Jedoch gab es nicht nur Ruinen und Relikte: Wie uns die Dorfbewohner mitteilten, residierte die Dorfvorsteherin, denn meine Gefährten drängten Zwecks Alicornjagd (ich hatte sie wohl in ihrer Zielstrebigkeit unterschätzt) zu einem Gespräch mit ihr, in einer immer noch intakten, kleinen Stufenpyramide! Dann sollten wir sie eben nach dem verfluchten Alicorn fragen. Von Löwenstein begleitete uns, eventuell würde die Dorfvorsteherin ja auch genaueres zur Location dieser jahrzehntealt-frischgegründeten Amazonenburg mitzuteilen wissen. Man warnte uns vor, dass sie etwas eigen sei und sich nicht jedem zeige, was wir jedoch mit einem Schulterzucken abtaten. Letztlich hätten uns die zögerlichen Antworten der Befragten misstrauisch machen müssen, dann hätte uns die Realität unter Umständen nicht derart stark überrascht.
Als wir mehrfach an das steinerne Portal der Pyramide geklopft hatten und einige Minuten mit wachsender Ungeduld gewartet hatten, kaum einen Moment, bevor ich nicht anmerken wollte, dass wir hier doch nur unsere Zeit verschwendeten, sahen wir sie: Eine Sphinx. Ihr deutlich mehr als menschengroßer Oberkörper, welcher von einer groben Tunika bedeckt wurde, das hübsche weibliche Gesicht mit den großen Augen und die Andeutung des halb durch den Stein verdeckten, animalischen Unterkörpers, so stand sie da, auf, besser in der Spitze der Pyramide, wo sich wohl eine Nische mit einer Treppenführung aus dem Inneren der Pyramide heraus befinden musste, von einem Moment zum Anderen, ganz plötzlich.
Gelangweilt blickte sie in die Ferne. Ohne uns auch nur einen Moment anzublicken, begann sie mit uns zu sprechen und beantwortete uns unsere Fragen, in Rätseln selbstverständlich, wie es die Legenden zu berichten wissen.
Wir fragten viel. Im Kern bleibt festzustellen, dass ich über die Antworten, die sie mir gab, eine gewisse Enttäuschung verspürte. Die innere Erregung, die mir ihr erster Anblick verliehen hatte, verkehrte sich schnell in ihr Gegenteil, als die Hoffnung auf letztgültige Lösung meiner autometaphysischen Debatten in Form von Binsenweisheiten und billigen Gleichnissen zerstört wurde. Aber heißt es nicht, die Sphinxen stammten von den Gryphonen ab? Sind sie nicht also als Wesen der Macht verpflichtet, die in Aventurien gemeinhin als Götterfürst, als Herr des Lichtes Praois angebetet wird? Selbstverständlich war es zum Scheitern verurteilt, dergleichen Geschöpfe mit magiephilosophischen Ansätzen nach Rashman Ali zu konfrontieren. Ob derartiger Thesen und Theorien muss ihr grundsätzliches Gespür für Weisheit und Wahrheit selbstverständlich kollabieren. Eine gewisse Ernüchterung konnte ich trotzdem nicht verhehlen.
Zwei mehr als konkrete Fragen beantwortete die Sphinx mit ihrer katzenhaft anmutenden, samtweichen Frauenstimme jedoch (für ihre Verhältnisse) mehr als eindeutig. Ich für meinen Teil kann dem wohl ein „leider“ hinzufügen. Insbesondere, da ich mich auch noch der phänomenalen Dummheit zu bezichtigen weiß, das meiner Meinung nach mehr als simple Rätsel überhaupt erst laut gelöst zu haben, sodass alle über die Bedeutung der Worte der Sphinx im Bilde waren.
Es handelte sich um die Fragen nach dem Aufenthaltsort des Alicorns und der Lage der Festung. Als hätte ich es nicht irgendwo in meinen tiefsten tiefen geahnt, waren die Koordinaten beider Orte tatsächlich deckungsgleich.
Nun hatte ich einerseits keine Ausrede mehr, um nicht nach dem Horn zu suchen, andererseits musste ich dabei über weitere Tage hinweg mit einer Amazone reisen.
Verflucht.
Ein neuerlicher Umweg der meine Kapitale in weite Ferne rücken ließ schloss sich an, nachdem wir Luzelin mit Hilfe des Amulettes eine Botschaft übermittelt hatten, noch mehr Tage im Wald, noch mehr Zeit in der Gegenwart unerträglich unreflektierter religiöser Speichellecker deren Irrationalität mich stets in meinem Glauben an den Menschen hat zweifeln lassen. Aber man muss wohl mit dem Material arbeiten, welches vorhanden ist und blanker Zynismus wird diesen Kontinent im Vergleich dazu auch nicht in eine bessere Zukunft führen.
Trotz Verfolgung durch Unbekannte, deren weiteren Weg wir durch eine kleine von mir erdachte Falle an einem Steilhang jedoch wohl entscheidend aufhalten konnten und Angriffen eines Rudels Khoramsbestien, welcher mir ein weiteres Mal demonstrierte, dass die Waffe der geistig Armen das Schwert, nicht der Verstand ist und diesem hin und wieder eine gewisse Praktikabilität kaum abzusprechen sei, kamen wir schnell voran, was aber kaum etwas an den objektiven Fakten änderte: Ich war müde, abgekämpft und schmutzig. Meine Kleidung war zerrissen und blutverkrustet, ich sehnte mich nach einem guten Bett und eine Vielzahl kleinerer Verletzungen der letzten Wochen forderten ihren schmerzhaften Tribut.
Der Gedanke an das Alicorn war es, der mich vorantrieb, ich versuchte das Positive der aufgezwungenen Situation zu sehen: Angenommen, wir fänden das Horn: Wer sagte, dass ich es ihr gäbe? Mit einem Widerwille, Imperavi und Banbaladin sollten auch meine Gefährten leicht zu überzeugen sein, dass es das Alicorn entweder garnicht gäbe oder sie gute Gründe hätten, es den fähigen und verantwortungsvollen Händen ihres Herrn Magiers zu übergeben und dieser wiederum könnte es dann den verantwortungsvollen Händen seiner Akademie übergeben um endlich einen der Verantwortung vollkommen angemessenen Schuldenerlass zu erhalten. Götterverfluchter Zinseszins, fast nachvollziehbar, dass Praios etwas gegen Wucher(er) hatte.
Es war eine notgedrungene Motivation, aber wohl besser als gar keine und immer noch eine gänzlich erstrebenswertere Idee, als den Weg nach Fasar von hier aus alleine zu bestreiten, wo ich einmal fernab aller Routen war und mich wohl kaum damit brüsten konnte, über eine meisterliche Orientierung oder gar Wildniskunde zu verfügen? Wuchs Moos nicht immer auf der Nordseite eines Steins oder Baums? Da hörte es dann aber auch schon auf.
Dass die Burg in der Hand einer Vielzahl schwer bewaffneter Amazonen vorzufinden wäre, hatte ich in meinen Gedankenspielen stets vernachlässigt, als wir nach acht Tagen des gefühlten Irrens endlich die Burg erreicht hatten, merkte ich, dass mein Hirn der Wirklichkeit mal wieder einen und der rondriotischen Diplomatie zwei Schritte vorausgewesen war. Statt einer in Stand gehaltenen und gut geführten Feste fanden wir eine von Dornenranken und Feuermoos überwucherte Ruine vor.
Erwartungsgemäß nahm Thornia von Löwenstein das gar nicht gut auf: Sie schrie, fiel apathisch ins Gras und schwieg fortan in sitzender Haltung, die Arme um die Beine geschlungen. Als sie nach mehreren Minuten zu immer noch keiner Kommunikation in der Lage war, sah ich mich genötigt, dieser Frau in meiner Funktion als Seelenheilkundiger zu helfen. Dies war zwar einerseits aus utilitaristischen Motiven heraus schlüssig (wer wusste schon, was uns darin erwartete und ihren Schwertarm wusste sie immerhin zu schwingen), jedoch erschien es mir auch verantwortungsethisch ratsam. Gerade, weil ich weiß, dass ich fähiger und intelligenter als viele humanoide Habitanten Deres bin, sehe ich die Pflicht zur Hilfe, sofern nicht dem größeren Wohl unterzuordnen, als Maxime meines Handelns an, von der damit einhergehenden Vorbildfunktion, auch ohne Götterzwang vernünftig zu handeln, ganz zu schweigen. Dass sich derart hehre Motive im Allgemeinen immer noch mit einer gewissen Grundmisanthropie in meinem Geiste zu messen haben – geschenkt.
Nach einer guten halben Stunde war Thornia wieder einigermaßen zu gebrauchen. Die Überreste der Festung waren in ein kleines Tal eingefasst, es bestand also die Möglichkeit über einen Felsvorsprung in einigen Metern Höhe auf einen halb eingestürzten Turm zu klettern und von dort Zugang zum Inneren zu finden. Die Möglichkeit, sich durch Feuermoos und Dornen einen Weg durch den Geröllhaufen zu bahnen, der wohl dereinst ein Tor gewesen war, kam im Vergleich dazu kaum in Frage. Es wurde langsam dunkel, es war kalt und es nieselte leicht, ein Dach über dem Kopf wäre bestimmt die Klettereinlage wert.
Die Innenräume der zur Ruine verkommenen Befestigung empfingen uns in nass-kalte Düsternis, einzig und allein durchbrochen vom lodernden Licht meiner Fackel. Nachdem sich meine Augen an die neuen Sichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah ich, dass wir uns in einem runden Raum von vielleicht 10 Schritt Durchmesser befanden, an sich nichts Ungewöhnliches, wir befanden uns wohl im dritte oder vierten Stock des bereits erwähnten Turmes, ein oder zwei Stockwerke über eine an der Seite gelegene, steinerne Wendeltreppe nach unten und wir würden Zugang zum Rest des Gebäudekomplex‘ erhalten. Was jedoch schon eher die Chance bot, mich zu äußerster Vorsicht anzuhalten, war eine Reflektion der Flamme, hervorgerufen durch etwas, was sich selbst meinen laienhaften Anatomiekenntnissen schnell als an die Wand gelehntes Skelett offenbarte. Natürlich: Irgendeinem Ereignis tragischer Art musste der Fakt, dass diese Feste nicht mehr Heimstatt stolzer Kriegerinnen sondern selbst hier, im Inneren, einer unerschöpflichen Menge Feuermooses war, ja zu Grunde liegen. Meine optimistische Hypothese, dass es den Amazonen irgendwann selbst aufgegangen war, dass so eine Burg abseits aller Zivilisation nicht die klügste Idee sein könnte, schien sich damit in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Auf einen entsprechend lakonischen Kommentar zu verzichten schien im Angesicht der Verfassung unserer rondragefälligen Begleitung leider trotzdem geboten.
Vorsichtig gingen wir weiter nach unten. Mit jedem der drei Stockwerke des Turmes, die wir passierten, wurde es trockener und zumindest ein wenig wärmer. Schließlich erreichten wir einen größeren Raum, von welchem einerseits die Treppe weiter nach unten führte und andererseits zwei Gänge zu unserer linken und rechten abzweigten und sich im Dunkeln verloren. Trotz meiner starken Insistenz, dass wir uns weiter nach unten begeben sollten (ich verspürte ein intuitives, hinter jeder Wahrnehmungsschwelle fast verschwindendes Kribbeln, wenn ich an diesen Weg dachte), wurde der Amazone, wohl aus Anteilnahme, Folge geleistet und wir begaben uns nach rechts.
Augenscheinlich befanden wir uns hier im Wohntrakt des Gebäudes: Morsche Zimmertüren reihten sich Glied an Glied und gaben teilweise bereits den Blick auf kleine Räume frei, in denen hölzerne Bettgestelle vermoderten. Leichen, sauber abgenagt wirkende Skelette, ein Anblick, der mir immer wieder ein leichtes Schaudern über den Rücken jagt, sahen wir allenthalben: In mein Gedächtnis eingebrannt allerdings hat sich der Anblick zweier Gestalten, ihr Körperbau lies darauf schließen, dass sie kaum älter als 15, 16 vielleicht gewesen waren. Hinter einer aus den Angeln hängenden Tür lagen sie auf dem Boden, eng nebeneinander, die rechte Körperhälfte nach oben gedreht. Dünne fahle Knochen, die einstmals Hände waren hielten einander einst wohl fest umklammert, ein Schwert zierte die jeweils andere. Einige Rippen waren zerschmettert, Für einen kurzen Moment vergaß ich all meinen begründeten Dünkel gegenüber dieser Amazonenburg, ihren Bewohnern und deren Ideologie und musste tief Luft holen. Ein leicht süßlicher Geruch zog in meine Lunge. Kam er von den Leichen? Nach all der Zeit? Oder war das götterverdammte Moos sein Urheber? Ich wollte es nicht wissen, mir war schwindlig. Was wäre, wenn sich ein solches Massaker bei mir, in der Al’Achami abgespielt hätte? Gewiss, es benötigte wohl einen Erzdämon in Personam um dergleichen anzurichten, verstörend blieb es jedoch. Das Verhältnis der einzelnen Scholaren untereinander mag, allein auf Grund der schieren Größe der Akademie, ein wenig distanziert gewesen sein und wurde durch die Lehre nicht wesentlich gefördert, aber trotzdem kannte und schätzte man sich; selbst die Kleinsten, mit ihren sechs bis zehn Götterläufen strahlten sie etwas aus, was mir ein gewisses Grundvertrauen gab: Dass da andere waren, neue kamen, an die all das Wissen weitergereicht wurde und das ein nicht unwesentlicher Teil daraus die notwendigen Konsequenzen zöge: Freie Geister beugen sich nicht.
Der Gedanke, dass all das vernichtet sein könnte, die Eleven, Novizen und Studiosi abgeschlachtet, Sahibilius und all die anderen gemordet, meine Liebsten nicht mehr als eine Ansammlung von Knochen, die Hände fest umschlungen... Genug davon.
Dieser Gedanke versetzte mir einen doppelten Stich ins Herz. Ich fühlte mich unsagbar Müde, wollte rasten, aber eine perverse Neugier trieb uns weiter, den Gang entlang, und als er an einer Wand endete, gingen wir zurück zur Treppe, dorthin, wo wir hergekommen waren und folgten dem Weg zu unserer Linken, bestaunten das Panoptikum zerschmetterter und durch Satinavs Macht blankpolierter Körper: Teils in eiserne Rüstungen oder verrostete Kettenhemden gekleidet, an anderen hingen noch Lederfetzen herab.
Wie in Trance folgte ich den anderen. Es entging mir nicht, dass eine Anspannung in der Luft lag. Irgendetwas passierte. Und wollte ich nicht weiter herunter, weg von diesem Stockwerk? Wir hatten gerade unsere Inspektion des linkerhand gelegenen Ganges beendet und standen im Zwielicht des Treppenraumes, als ich leise Geräusche vernahm.
tock
tock

tock
tock
Der laut war mir vertraut und von einem Moment zum anderen war ich wieder 23, in einer letzten Aufwallung jugendlicher Unvernunft gefangen; naiv, dumm und auf der Suche nach einem Platz zum Zweitstudium im tiefsten Süden. Von der Hitze der letzten Tage an Bord des Schiffes verbrannt stand ich in der Kühle eines ähnlichen Ganges und lauschte einem leisen „tock... tock...“, dass über den steinernen Boden schlurfte...
Ich hörte Schreie, schlug die Augen auf und sah, was ich erwartet hatte. Zwei der Skelette waren nicht ganz so tot gewesen, wie sie den Anschein erweckt hatten. Diese Untoten hatten für mich entgegen der wirklichen Toten etwas fast Vertrautes. Und zudem sollten sie keine wirklich schweren Gegner sein, immerhin hatten wir drei fähige Kämpfer auf unserer Seite? Es würde kaum nötig sein, dafür Astralkraft zu verschwenden, so dachte ich. Nach gut 15 Sekunden, in denen ich das Kampfgeschehen nur am Rande beäugte und immer wieder plötzlich aufwallende Erinnerungsfetzen wegblinzeln musste (was war nur los mit mir?), war mir klar, dass das eine relativ katastrophale Fehleinschätzung gewesen war. Sharim, die Amazone und insbesondere Leomar vertrugen den Kontakt mit den Lebendtoten nicht gut, sie setzten sich ihnen kaum zur Wehr und trugen Wunde um Wunde, stets von einem schmerzhaften Aufschrei begleitet, davon. Wie aus einer Trance erwacht begann ich rasend schnell mein Gedächtnis zu durchforsten, was ich in dieser Situation tun konnte und kam zu dem Ergebnis, dass „nichts“ noch euphemistisch war. Fulminictae, mehr hatte ich nicht zu bieten.
Ein brachialer Hieb Leomars und einer der beiden Untoten fiel, doch aus dem Gang hörte man bereits eine Vielzahl von neuerlichen „tock“-Lauten. Dann vernahm ich, wie Stahl durch Fleisch schnitt. Leomar ging zu Boden und ich verlor die Contenance.
„Nach unten!“, schrie ich, die anderen hatten kaum Gelegenheit über diesen Befehl nachzudenken, was mir in dieser Situation mehr als gelegen kam. Ich schrie den bereits seit Kampfbeginn etwas irritiert wirkenden Yerodin an, mir mit Leomar zu helfen, als dieser nur, seltsam tonlos, sagte: „Ich kann einen Bannkreis wirken.“, und zu beten begann.
„Was?“, entgegnete ich mit entgeisterter Miene. Dieser Belhalharverfluchte Phexpaktierer hätte doch nicht ernsthaft einfach einen schützenden Segen um die Treppe legen können?! Nach kurzem Nachdenken war mir klar: Er hätte es und wenigstens jetzt tat er es auch.
Die nur bei genauem Hinsehen sich durch leichte Luftspiegelungen verratende Schutzzone um die Treppe, die nach einigen Sekunden entstanden war, verschaffte uns Zeit. Wir flohen. Nach unten. Weiter nach unten. Ich folgte meinem Sinn. Schließlich kamen wir in ein Kellergeschoss, dass in einen gemauerten Gang mündete, an dessen Ende wir in einer natürlichen kleinen Höhle standen. Wurzelwerk durchzog die Decke und in mehreren steinernen Vertiefungen stand Wasser einige Zentimeter hoch. In der Mitte stand etwas , das ein Altar zu sein schien, darauf ein kleines, verwittertes Buch. Dem Skelett, welches davor lag schien es glücklicherweise entschieden an Lebenskraft zu mangeln.
„Der Raum ist gesegnet, hier sind wir sicher.“, presste Thornia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt , ihr schwarzes Haar klebte schweißnass an ihrer Kopfhaut, während sie sich den linken Arm hielt.
Sharim schien noch einigermaßen lebendig zu sein, ebenso Yerodin. Leomar hingegen... Nachdem Wir ihn in den Raum gezogen hatten, lag er nun von den Schultern abwärts in einem der flachen Wasserbassins, welches sich langsam rot färbte. Yerodin betete, Sharim tanzte einen befremdlichen Tanz, nachdem es uns zumindest etwas besser ging, Thornia verband ihre und Leomars Wunden mehr schlecht als recht, aber es musste reichen.
Das Buch, welches auf dem Alter in der Mitte des Raumes lag, schien eine Chronik zu sein, die den Ablauf der letzten Tage der Festung beschrieb. Nicht alles war mehr lesbar, die enge, gedrungene Handschrift machte es nicht besser, ebensowenig die Tatsache, dass einige der Seiten mit Blut untrennbar aneinandergeklebt waren. Meine Gefährten dämmerte langsam aber sich in Targunitoths Reich hinüber, ich jedoch wollte verstehen, was hier passiert war.
Ein Mann namens Korobar schien vor mehr als 15 Jahren diese Burg besucht zu haben. Er schien etwas gesucht zu haben (in jenem Moment überlief mich ein unangenehmes Kribbeln) und geriet darüber mit den Amazonen in Streit, die ihn der Burg verwiesen, er jedoch setzte sich anscheinend mit Macht zur Wehr und versah die Kadaver der von ihm Getöteten mit neuer Lebenskraft. Es gelang ihnen, ihn unter Aufwendung aller Kräfte zu töten, doch die Überzahl der einstmaligen Gefährtinnen ließ den letzten Widerstand zusammenbrechen. Die Amazonenkönigin rettete sich schwer verletzt in das hiesige Heiligtum und brachte hier die Ereignisse der letzten Tage zu Papier. Ihre letzten Worte galten der Genugtuung, dass Korobar es zumindest nicht in seine Finger bekommen hatte. Wieder durchfuhr mich das Kribbeln und erneut schossen Gedankenbilder, Erinnerungen aus jeder Phase meines Lebens durch meinen Kopf. Meine Kindheit, die Tore von Gareth, Streitzig, das Szepter, meine Elevenzeit, die Vertreibung Liscoms und seiner Getreuen, die endlos langweiligen, bürokratischen Überprüfungen der Akademiegüter, wissenschaftliche Praxis, ein guter Tee. Woher kam das nur?!
Ich blickte auf den Körper der toten Königin zu meinen Füßen. Ihre knochige Hand hielt etwas umklammert. Da war es. Das Alicorn. Schwarz, matt und kalt. Eigentlich nur ein Splitter, wie ich feststellte, als ich es aus der Hand der Amazone löste. Ein Splitter eines schwarzen Alicorns. War es das wert gewesen? Ich wusste es nicht.
Natürlich nahm ich meine Astralkraft zusammen, konzentrierte mich und begann eine Analyse. Ich bin kein Meister der Magica Clarobservantia, ganz im Gegenteil, schleppend kam ich also nur voran und entsprechend Kräftezehrend war das Procedere für mich.
Ich betrachtete die Matrix und bei Nandus, etwas derart Fremdartiges hatte ich nie zuvor gesehen. Dieses Horn hatte nichts mit der Art von magischen Artefakten zu tun, mit denen ich es normalerweise zu tun hatte. Selbst das Szepter wirkte im Vergleich dazu wie ein einmaliger Flim-Flam-Spruchspeicher. Es wirkte fast so, als wäre hier eine arkane Matrize um etwa gänzlich anderes gesponnen, der Vergleich zu einem Kokon drängte sich mir fast auf. Ich musste wissen, was sich im Inneren befand, so nutzte ich alle Kraft die mir verblieben war und versuchte die schützende Matrix zu durchdringen.
Plötzlich bohrte sich etwas, ohne jegliche Vorwarnung, in mein Hirn. Gleich einer Unzahl kleiner Haken grub es sich in seine Windungen und zog daran. Bald würde es aus meinem Kopf gerissen, ich verspürte den Sog einer anderen, wirklicheren Realität, viel grausamer in ihrer Fülle von Eindrücken, als das, was mir meine 6 Sinne verarbeiten konnten, für einen Moment sah ich die Welt unverstellt...
Reflexartig schirmte ich mich ab, errichtete blitzartig die Mauern in meinem Kopf, die nunmehr der einzige Verteidigungswall zwischen mir und diesem... anderen waren.
Plötzlich war mir klar, dass meine Erinnerung alterte. Ich musste sie fassen, sonst drohte sie zu entrinnen. Ich musste alles aufschreiben. Von Anfang an.
Wenn ich heute auf jenes fiebrige Konvolut blicke, welches ich vor nicht einmal einem Monat verfasste, so verwundert mich die Kühnheit und die Unverständlichkeit des Niedergelegten immer noch. Doch sei es drum: Als Leomar sich bereits wieder zu regen begann, war ich schon in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Das Alicorn hielt ich fest umklammert
Wir mögen fast einen ganzen Tag so zugebracht haben. Im Wechsel wachend und schlafend verging die Zeit, während sich Wunden zu schließen begannen und Kräfte regenerierten. Wir hatten Wasser und in unseren Taschen und Rucksäcken fand sich die eine oder andere karge Ration, von der wir zehrten. Es waren surreale Stunden, in denen niemand viel redete. Es war mir Recht.
Ich blätterte hin und wieder in der Chronik und versuchte mir mehr aus dem Text zu erschließen, als das wenige, was ich zu entziffern in der Lage gewesen war. Der eigentliche Grund dafür war schlichtweg der, dass ich mich der perversen Faszination entziehen wollte, die der Hornsplitter auf mich ausübte. Immer trug ich ihn in meiner linken Hand, wollte ihn eigentlich weiteren Analysen unterziehen, aber gleichzeitig warnte mich etwas in mir, dass dies aus gutem Grund eine schlechte Idee sei. Also las ich. Und plötzlich las ich es: „So war es aber nun bei Tage besser, doch gab uns das kaum Zeit nur die Verwundten zu versorgen denn nächtens griffen sie uns um so härter wieder an.“
Ich hätte mich ohrfeigen können: Licht! Praiosverfluchtes Licht! So billig, so naheliegend, so simpel! Untote meiden (zumindest in den meisten Fällen) helles Licht wie die Duglumspest. Wenn mich mein Zeitgefühl nicht vollkommen enttäuschte, musste noch Tag sein. Im inneren der Festung störte das die wandelnden Toten natürlich wenig, aber wofür gab es den Flim Flam? 5 oder 10 Minuten taghelles Licht um uns hier durchzubringen und vor den Skeletten zu schützen, das schien mehr als schaffbar. Ich hatte den Alicornsplitter in meiner Hand, mich hielt hier nichts mehr!
Ich teilte den anderen meine Überlegung mit, nachdem ich Leomar geweckt hatte. Er sah inzwischen viel besser aus, zwar wollte ich beileibe nicht in seiner Haut stecken, aber zum rudimentären Kampf schien er inzwischen wieder in der Lage. Ich erhielt einhellige (von Seiten der Amazone etwas zurückhaltende) Zustimmung für meinen Plan, die Untoten mit Licht auf Distanz zu halten und so schnell wie möglich zu verschwinden und so machten wir uns bereit und durchschritten kurz darauf mit entschlossenem Schritt die Burgruine, wir wollten sie über den Turm verlassen, über den wir sie betreten hatten.
Hin und wieder hörte ich ein leises „tock...tock...“, welches sich schnell von uns weg bewegte, mein Plan funktionierte hervorragend. Als wir schließlich aus dem Turm hinaustraten, bot sich uns von unserer erhöhten Position ein wahrlich ergreifendes Panorama auf Wälder und Berge, getaucht in den glutroten Schein der untergehenden Sonne vor dem... ich blinzelte mehrfach. Meine Sicht schien zufriedenstellend, aber was ich da sah, gefiel mir gar nicht. Eine wohlbekannte Gestalt auf einem Besen flog heran. Niemand geringeres als Luzelin flog da auf uns zu. Welch niederhöllischem Zufall war es zu verdanken, dass wir uns ausgerechnet in diesem Moment aus der Feste hatten treten müssen? Die Chancen müssten astronomisch gering gewesen sein, nichts desto Trotz landete sie vor uns auf der Turmspitze. Doch was war das für eine Erscheinung, die sich uns bot? Die Haare zerzaust, die Augen weit aufgerissen und mit schwerem Atem stand sie vor uns. Aus ihrer Stimme sprach Erschöpfung und Anstrengung, als sie uns die Situation erklärte.
Achaz. Wir hatten ihre Spitzel nicht vollständig ausgeschaltet, uns nur einen gewissen Vorsprung verschafft. Nachdem ihre Gedungenen jedoch die Feste sahen, die wohl unser Ziel gewesen zu sein schien, suchten sie so schnell wie möglich ihre Auftraggeberin auf, um diese zu benachrichtigen. Das war vor einigen Stunden passiert. Achaz Eintreffen durfte wohl nur noch eine Frage der Minuten sein.
Eine unangenehme Situation, doch hatte Luzelin nach eigener Aussage eine Idee, wie wir ihr ein für alle Mal das Handwerk legen könnten. Sie würde „Verstärkung“ (was auch immer das bedeuten sollte) holen, während wir Stellung halten und Achaz ablenken würden.
Ich sagte nichts zu diesem glorreichen Plan, sondern war in Gedanken schon wieder ganz darauf konzentriert, einer plötzlich über mich hereinbrechenden Welle von Erinnerungen Herr zu werden: Der Weißmagier im Duell, meine Mutter, Mirhamer Golems, Al’Anfa und die Sklavenauktionen, zwei Menschen Hand in Hand in einem Seitentrakt der Al’Achami, die feuchte Hitze Brabaks, Galottas feines Lächeln, eine Schiffsreise, Enttäuschung. Es war kaum unter Kontrolle zu bekommen, aber mit der Zeit gewöhnte man sich daran, es kam geradezu einen Rausch gleich, der ewig währen könnte... Ich umklammerte das Alicorn fester mit meiner Linken in der Tasche meines Mantels.
Luzelin schien dies nicht entgangen zu sein, sie wandte sich an mich und forderte den Hornsplitter.
Rückblickend fällt es mir enorm schwer, zu sagen, was es war, dass mich letztlich nachgeben ließ, vielleicht die plötzliche und doch noch sehr frische Erinnerung in meinem Kopf, wie wir von Myriaden kleiner Spinnenwesen durch den Wald gehetzt worden waren und uns schließlich eine gigantische Maraske fast das Leben kostete, aber aus reinem Affekt ging ich auf ihr Angebot ein, mir Geheimwissen um Satuarische Magie im Austausch für den Splitter zu vermitteln. Gewiss, es dauerte eine Weile, bis sie ihn aus meiner Hand gelöst hatte, aber danach fühlte ich mich plötzlich wie von einer Last befreit, voller Energie, als könnte ich die sprichwörtlichen Bäume ausreißen.
Luzelin verabschiedete sich hastig und ich wies die anderen an, das Heiligtum zur Verteidigung zu präparieren. Ein enger Gang, gut zu verteidigen und zu verbarrikadieren, zudem beschützt von wer weiß wie vielen Untoten? Das klang nach Potential, zusätzlich versperrten wir den Gang mit Felsbrocken. Wir ernteten Feuermoos und verteilten es weiträumig auf dem Boden vor dem Eingang zum Heiligtum. Das würde eine nette kleine Überraschung geben.
Doch soweit sollte es niemals kommen: Wir warteten und warteten, eine Stunde musste bereits vergangen sein, als wir über uns gedämpften Lärm vernahmen, der an eine Explosion gemahnte und Erdreich von der Decke rieseln ließ. Wir zogen unsere Waffen und blieben in Bereitschaft, doch niemand kam. Draußen schrien Stimmen, wir hatten keinerlei Idee, was dort wohl genau vorgehen mochte, doch war es inzwischen im Innern des Heiligtums bereits bedenklich heiß geworden. Trotzdem harrten wir aus. Die Laute über uns setzten sich über Minuten fort. Langsam fiel es schwer zu atmen, die Temperatur stieg und stieg, irgendwann rannte die Amazone einfach los, dann folgte ihr Leomar, dann waren wir plötzlich alle im Gang, aus dem uns noch mehr Hitze entgegenwallte, wir achteten nicht darauf, rannten voran, unser Gepäck geschultert, die Amazonenburg brannte lichterloh. Feuermoos bildete die Grundlage eines einzigen Flammenmeers, durch das wir hetzten, nur darauf bedacht rechtzeitig den Turm zu erreichen.
Wir müssen ein Bild des Elends abgegeben haben, als wir schließlich in die heiße, aber im Vergleich so unendlich kühle Nachtluft hinausstoben, rußverschmiert, verbrannt, die Kleidung kaum noch als Kleidung erkennbar. Hexen sahen wir keine. Die Nacht war von Flammenschein erfüllt, doch menschenleer.
Als wir nach einem schweigsamen, anstrengenden und bitte aus der Erinnerung zu tilgenden Marsch endlich zurück im Dorfe angekommen waren, war auch dort keine Luzelin. Nicht, dass ich wirklich daran geglaubt hatte, aber die Hoffnung war da irgendwo in meinem Hinterkopf gewesen. Die fixe Idee, all das doch nicht umsonst getan zu haben. Aber hier war niemand.
Ich hatte den Splitter in Fremde Hände gegeben. Einfach so. Alles war umsonst gewesen.
Wir blieben einen Tag und eine Nacht Rash Lamashtu. Versorgten uns notdürftig. Dann ging es weiter, einzig und allein getragen von der Hoffnung, dass man uns in Fasar mit mehr Herzlichkeit empfangen würde.
Erinnerungen kamen mir nicht mehr ins Bewusstsein, stattdessen war alles seltsam leer, nur ein einziger Gedanke trieb im trüben Wasser meines Hirns.
Verflucht sei die Hexenzunft, dies widerwärtig-verlogene Gezücht.

Meine Güte. Jetzt sind es doch gut 17 Seiten, auf denen ich diese gar traurige Geschichte niedergelegt habe. Sobald ich in Khunchom bin, werde ich dann mit den Geschehnissen in Fasar fortfahren, aber da mir der Ärger, den sich meine Gefährten dort zugezogen haben, relativ egal ist, werde ich mich da hoffentlich aufs wesentliche beschränken können... Aber wen mache ich eigentlich etwas vor?


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